Rechtsstaatlichkeit erkunden und erfahren am Bildungszentrum Herdecke
Oftmals erscheinen getroffene Sanktionen und Strafen nach Gerichtsprozessen als zu milde, für die Tat, die begangen wurde. Dies wirft die Frage nach Gerechtigkeit auf. Wie gerecht sind Urteile? Auf welcher Grundlage werden sie beschlossen? Eine erste und naheliegende Antwort verweist auf das Grundrecht jedes Einzelnen und unser Rechtsstaatsprinzip. Doch ganz so einfach ist es nicht.
Um diese und weitere Fragen zu beantworten, haben sich Bundesfreiwillige daher im Bildungszentrum Herdecke zusammengefunden, um sich im Rahmen einer Seminarwoche mit dem Thema "Rechtsstaatlichkeit und gerechte Strafe" auseinanderzusetzen. Gleich zu Beginn des Seminars wurde von einer Gruppe Freiwilliger der Begriff „Gerechtigkeit“ definiert und diskutiert. So entstand schließlich folgende Erläuterung: „Gerechtigkeit bedeutet, dass jeder fair behandelt wird, und bekommt, was ihm zusteht, ohne Diskriminierung oder Ungerechtigkeit.“ Obwohl der Begriff „Strafe“ in dieser Definition nicht explizit genannt wurde, steckt in ihr bereits das Bedürfnis nach Gerechtigkeit und moralischem Gleichgewicht bei Regelverletzungen. Ein Umstand, der zur Diskussion über ethische Dilemmata und Grundsatzfragen einlud.
Zunächst wurde hierfür ein wissenschaftliches Grundgerüst geschaffen, indem sich die Freiwilligen einen Überblick über unterschiedliche Straftheorien verschafften. Dabei war es für die späteren Erfahrungen im Seminar wichtig zwischen Präventions- und Vergeltungsstrafen zu unterscheiden. Was ist eine gerechte Strafe? Wie sinnvoll sind derzeitige Strafen überhaupt? Was könnte im deutschen Strafsystem für alle verbessert werden und gibt es weitere Möglichkeiten mit Gesetzesverstößen umzugehen?
Darüber hinaus bot sich den Freiwilligen innerhalb des Seminars gleichwohl die Möglichkeit, das Themengebiet praktisch zu erkunden. So haben sich die Seminarteilnehmenden den Projekten „Internationale Strafansätze der Länder Deutschland, China und Iran“, „Präventionsmaßnahmen in der Jugendkriminalität“ und der „Natürliche Drang zur Gewalt“ als eine Ursache von Kriminalität angenommen. Eine Gruppe entwickelte hierbei die Idee, einen gesamten Gruppenraum nach dem „Escape-Room“-Prinzip zu gestalten. Der Raum wurde hierzu ähnlich einem Tatort gestaltet, sodass an der Tür ein Schild mit der Aufschrift „Ursachen von Mord – crime scene, keep out“ bereits das Verbrechen ankündigte. Der Raum wurde dabei mit stimmungsvoller Beleuchtung ausgestattet, eine Tatort-Opfermarkierung am Boden platziert und die Wände mit vielen Hinweisen zum fiktiv geschehenen Mord versehen. Die Aufgabe der Seminarteilnehmenden bestand nun darin, den Fall mithilfe von Sachinformationen und einer Auswahl von drei Biografien zu lösen. Eindrucksvoll zeigte sich, dass eine unabhängige Justiz- und gründliche Kriminalarbeit essentiell für eine gerechte Strafverfolgung sind, da die fiktive Ermittlungsarbeit samt ihrer Entscheidungen von Vorurteilen geprägt wurde, die die Gruppe im Anschluss in einem produktiven Austausch reflektierte.
Ein weiterer Höhenpunk der Seminarwoche war die Exkursion zum Justizzentrum Bochum. Dort nahmen die Freiwilligen nach einer kurzen juristischen Einführung als Teil der Öffentlichkeit an der zweiten Sitzung einer Verhandlung wegen Mordes im Landgericht Bochum teil. Insbesondere die Abläufe einer Gerichtsverhandlung wie Beweisaufnahmen und Zeugenbefragungen, der Umgang mit dem Angeklagten und die teils schwierige Umsetzung von theoretischem Recht in der Realität faszinierten die Freiwilligen. Zudem führten die Mitarbeitenden der Nachwuchsgewinnung des Justizzentrums Bochum die Freiwilligen durch die zentralen Räumlichkeiten des Gebäudekomplexes – inklusive Gefängniszellen. Hier erfuhren die Seminarteilnehmenden neben den organisatorischen Abläufen mehr zu den Berufsmöglichkeiten im Justizwesen und hörten gespannt und interessiert von Geschichten und Vorfällen im Justizzentrum Bochum.
Mit vielen Eindrücken und weitreichendem Wissen schlossen die Freiwilligen das Seminar am Bildungszentrum Herdecke schließlich zufrieden ab, geeint durch die Erkenntnis, dass unser erster Impuls, Gerechtigkeit einzufordern – ohne Durchführung eines fairen Gerichtsprozesses – unserem demokratischen Verständnis, unserer Rechtsstaatlichkeit und zuletzt auch dem Grundgesetz widersprechen.