„Ich bin erwachsen geworden“
04.07.2022
Neu erlernte Kompetenz gegen altes Muffensausen: Im Lebenshilfewerk Pinneberg bringt Jan Malte Endert Menschen mit Behinderungen bei gemeinsamer Arbeit ein Stück Normalität nahe. Und lernt dabei selbst fürs Leben.
Ein Zettel am Fenster fordert augenzwinkernd: „Hetz mich nicht!“ Im Hintergrund der Klang von schepperndem Metall und herzlichem Lachen. Wir sind zu Gast in „Montage 4“. Sie ist neben Tischlerei, Metallverarbeitung, Verpackung, Landwirtschaft, Gärtnerei sowie Garten- und Landschaftsbau eine der vielen Arbeitsbereiche des „Lebenshilfewerks Pinneberg für Menschen mit Behinderung“. Unter dem Dach dieser gemeinnützigen GmbH arbeiten Menschen mit und ohne Behinderungen. Insgesamt kümmern sich über einhundert Fachkräfte und aktuell zehn Freiwillige (darunter sechs BFDler) um die 460 Mitarbeitenden, die hier niemand „Behinderte“ nennt.
Einer der Freiwilligen ist Jan Malte Endert, seit September 2021 BFDler in „Montage 4“. Gerade steckt der 19-Jährige mit Rabia Capan die Köpfe zusammen. Die junge Frau sitzt im Rollstuhl und hat mit wachen Augen die Waage im Blick, die vor ihr auf einem Tisch steht. Auf der Waage landen in Tüten verschweißte Montage-Sätze aus Stiftschrauben, Muttern und Unterlegscheiben. Sie wurden von Rabias Kollegen für einen Kunden hergestellt und sollen Motorblöcke zusammenhalten. Rabia überwacht das Gerät und nickt zufrieden, wenn die Waage die gewünschten 2,17 kg anzeigt. So schwer darf der gerade gefertigte Satz sein. Dabei macht die „Ampelwaage“ ihrem Namen Ehre: Sie zeigt das Gewicht nicht nur in Ziffern, sondern gibt auch buchstäblich grünes Licht, wenn das eingestellte Gewicht stimmt – und demonstriert so im Detail die Philosophie der Pinneberger Werkstätten. „Manche unserer Mitarbeitenden kommen prima mit Zahlen klar“, erklärt Jan Malte. „Anderen zeigt das grüne, gelbe und rote Licht, ob alles ok ist.“ Je nach ihren Fähigkeiten werden die Mitarbeitenden an der Waage trainiert.
Dass hier niemand mit Herausforderungen allein gelassen wird und Spaß zum Alltag gehört wie persönliche Nähe, spürte Jan Malte schon an seinem ersten Tag als Freiwilliger. „Muffensausen“ hatte er da durchaus, denn Erfahrungen mit behinderten Menschen fehlten ihm. Heute, wenige Monate später, sagt er: „Die Menschen hier sind mir ans Herz gewachsen.“ Man glaubt Jan Malte sofort, wenn man ihn mit seinen Kolleginnen und Kollegen erlebt. Als Volker Hasselberg, der gerade Magneten für einen Schaltschrank ausstanzt, Malte zeigt, welchen Kniff er sich einfallen ließ, um mit seinen großen Händen die kleinen Magneten geschickter aus der Stanze zu bekommen, lächeln beide stolz. Und denken keinen Augenblick daran, dass Volker im Rollstuhl sitzt.
Die gemeinsame Arbeit verändert die Mitarbeitenden – sie erleben ein Stück Normalität, ein Miteinander auf Augenhöhe und das Gefühl gebraucht zu werden. Alles, was in den Werkstätten gebaut, montiert, gepflegt, verpackt und organisiert wird, geschieht im Kundenauftrag, wird also tatsächlich gebraucht. Die Arbeit schärft und verändert aber auch den Blick der Freiwilligen. Wie? „Der Freiwilligendienst hier vermittelt Einsichten. Die wichtigste ist: Menschen mit und ohne Behinderungen haben das gleiche Recht auf Glück, Spaß, Selbstbestimmtheit. Hier wird diese Einsicht gelebt. Das ist auch für mich gut, ich bin erwachsen geworden.“ Auch wenn Jan Malte, der vor dem BFD sein Fach-Abi schaffte, beruflich einen anderen Weg gehen will – er hat einen Ausbildungsplatz zum Mechatroniker in der Tasche – die Erfahrungen beim Lebenshilfewerk werden ihn im Leben helfen.
Kontakt: Lebenshilfewerk Pinneberg für Menschen mit Behinderung gemeinnützige GmbH, Rellinger Straße 55, 25421 Pinneberg, Tel. 04101 54 06 0; www.lebenshilfewerk-pi.de
Text: Lars Herde; Foto: Margit Wild